Bahnfahren mit Zwangsstörung

Bahnfahren mit Zwangsstörung

Bahnfahren mit Zwangsstörung – früher vs. heute? Wie lief das in der Vergangenheit ab, d.h. vor der kognitiven Verhaltenstherapie mit Expositionen mit Reaktionsmanagement. Und wie heute.

Bahnfahren mit Zwangsstörung – Früher

Wochen vorher unsagbar viele Zwangsgedanken und Grübeln. Wie wird es wohl ablaufen? Wer wird mir gegenüber im Zug sitzen. Ich möchte dort nichts anfassen oder angerempelt werden. Hoffentlich muss ich nicht auf Toilette. Mal wieder gefangen in der Endlosschleife…

An dem Tag selbst fühle ich eine enorm hohe innere Anspannung. Es geht los. Die Tür vom Zug geht nicht automatisch auf. Wo ist schon jemand vor mir eingestiegen, wo ist die Tür schon offen. Ich kann den Button nicht anfassen. Ich steige in den vollen Zug ein, suche meinen reservierten Sitzplatz. Da ist er. Ich scanne den Platz nach Flecken ab. Was ist das? Ich muss mich trotzdem dorthin setzen. Ist ja für mich reserviert. Möchte ja höflich sein. OK, ich sitze. Ich fühle mich massiv unwohl. Zwangsgedanken schießen mir wieder blitzartig durch den Körper. Bloß nichts anfassen. Besser nicht den Kopf an die Kopfstützen aus Stoff anlehnen. Wer weiß, was daran hängen könnte… So, und jetzt liegen 3 h Fahrt vor mir. Hoffentlich setzt sich niemand neben mich, der mich berühren könnte. Mir ist heiß. Ich schwitze. Mit einem Taschentuch wische ich mir den Schweiß ab.

Mein Buch habe ich erst gar nicht mitgenommen. Dann könnte ich nach der Bahnfahrt, das kontaminierte Buch nicht mehr weiter im Bett lesen. Also habe ich mir eine Zeitschrift mitgenommen. Was seichtes, um mich abzulenken, aber nicht zu viel. Muss ja mein Umfeld weiterhin beachten können. Bin permanent auf der Hut.

Jetzt habe ich Durst. Ich trinke aber nur ganz wenige Schlucke, damit ich keine fremde Toilette benutzen muss. Bäh, allein der Gedanke daran ekelt mich so dermaßen. Wer weiß, was ich mir da alles „holen“ könnte.

Am Bahnhof angekommen passe ich auf, dass ich das Gleichgewicht halte, damit ich keine Griffe oder Sitze berühren muss.

Ich sollte was essen. Bloß was? Am besten irgendwas Gekochtes, das ich mit Besteck essen kann. Oh nein, ist da etwa ein Haar in meinem Essen? Iiiieeehhhh, ich kann nicht weiter essen.

Ich bin maßlos überfordert.

Es ist einfach zu viel.

ES IST SO ANSTRENGEND!!!

Am Ziel angekommen bin eigentlich schon so fertig, dass ich gar keine Kraft mehr für den eigentlichen Grund der Reise habe.

Die Rückfahrt läuft ähnlich ab. Zu Hause angekommen: werfe ich alle Klamotten in die Wäsche und dusche. MIT Haarewaschen. Ist doch selbstverständlich. Vor dem Duschen aber erstmal Händewaschen. Sicher ist sicher.

Bahnfahren mit Zwangsstörung – Heute

Vorab freue ich mich auf das Reiseziel. Ich überlege, wie es wohl so wird. Hoffe, dass ich was gesundes zu essen unterwegs bekomme und habe eine Wasserflasche dabei, damit ich nicht dehydriere. Hoffentlich sind die Verspätungen nicht zu extrem. Ich möchte pünktlich da sein.

Ich drücke den Öffnen-Button des Waggons. Im Zug selbst lese ich mein Buch weiter. Ich nutze die Reisezeit sinnvoll, um meine Ernährungsumstellung zu planen. Oh, da sitzt aber eine sympathische Lady vor mir. Wir lächeln uns kurz an. Meine Wasserflasche ist schon halbleer.

Meinen Kopf lehne ich gegen die Kopfstütze. Ist bequemer so.

Komisch, dass Bahnfahrten immer so hungrig machen. Ich esse erst mal meinen Haferriegel. OK und jetzt kommt meine Ausnahme, die ich mir immer noch genehmige. Vor dem Essen nutze ich eine Hygienegel. Einmal. Das erlaube ich mir. Das reicht mir.

Vor Ort angekommen, frage ich erst mal wo die Toilette ist. Muss jetzt echt dringend. Ich schüttele allen die Hand. Trinke Kaffee. Fülle meine Wasserflasche wieder auf.

Auf dem Rückweg esse ich ein Vollkornbrötchen im ICE, trinke weiter fleißig mein Wasser, lese in meinem Buch weiter und checke auf meinem Smartphone die Fahrtzeiten für die Anschlusszüge. Hoffentlich schaffe ich wenigstens noch die 2. Halbzeit des ersten EM-Spiels der deutschen Mannschaft.

Abends zu Hause angekommen, bin ich nur noch froh, dass ich noch die letzten 20 min der 2. Halbzeit mit anschauen kann. Und bin so glücklich, dass ich das heute alles erleben durfte. Weil ich müde bin, gehe ich ungeduscht ins Bett und nehme mein Buch und mein Smartphone ebenfalls mit dorthin. Ich habe meinen Tag nach meinen Werten, Zielen und Bedürfnissen gestaltet. Diejenigen von euch, die mir schon länger folgen, wissen, das sind Bausteine der ACT (Acceptance & Commitment Therapie) sind. Wenn dich ACT interessiert, schau dir auch gerne meinen Post Kurswechsel im Kopf von Steven C. Hayes – Buch Tipp – Freiheit und Vertrauen ACT dazu an.

Für mich ist das ein schönes Leben MIT Zwangsstörung.

P.S. Der Grund meiner Reise war übrigens ein Besuch an der Uniklinik Tübingen. Prof. Hauser und sein Team arbeiten an dem Projekt OCD and the brain. Ich darf auch Teil davon sein und freue mich schon sehr, wenn ich euch näheres darüber berichten darf.


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