Meine kognitive Verhaltenstherapie
Als ich 2008 arbeitsunfähig wurde, war ich am Tiefpunkt meiner Zwangsstörungs-Historie angekommen. Nichts ging mehr, gefühlt saß ich nur noch auf der Couch und habe vor mich hingestarrt. Meine damalige Therapeutin hat mir eine kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionen mit Reaktionsmanagement, in Kombination mit Anti-Depressiva, vorgeschlagen. Das bedeutet, sich seinen schlimmsten Ängsten/ Befürchtungen zu stellen. Es läuft so ähnlich wie das berühmte Beispiel, sich nach dem Fall vom Pferd, direkt wieder zurück auf den Sattel zu setzen. Auf die Zwänge übersetzt wäre das z.B., dem Zwang, sich die Hände waschen zu müssen, nicht nachzugeben, nach dem Anfassen von etwas vermeintlich Kontaminiertem. Den Druck auszuhalten. Dadurch verliert der Zwang die Macht und man schafft es in kleinen Schritten, immer öfter dem Zwang nicht nachzugeben.
Zusammen mit meiner Therapeutin habe ich für meine ca. 100 Zwänge ein passendes Programm ausgearbeitet. Es stand im Mittelpunkt der folgenden Monate. Die Dauer der einzelnen Expositionen (so werden die Übungen genannt) sollte mindestens 1 Stunde (evtl. 2 Std.) betragen. Störungen und Unterbrechungen wirken erfolgsverringernd, d.h. ich musste meinem Mann immer Bescheid sagen, dass ich jetzt übe und er bitte nicht in den Raum kommen darf. Die Telefone und Türklingel habe ich auch immer stummgeschaltet.
Ganz wichtig: keiner darf beim Kontrollieren helfen, z.B. ob ein Herd ausgeschaltet oder die Tür abgeschlossen ist. Sollte ich also meinen Mann doch um Hilfe bitten, so musste er sagen „Auf diese Frage darf ich jetzt nicht antworten“. Er hätte mich aber freundlich unterstützen und ablenken dürfen mit Spazieren oder ähnliches.
Und so sah das Programm aus:
- Alle Zwänge nach Stärkegrad und in Zwangshandlungen und Zwangsgedanken sortiert aufschreiben. Das wird auch Angsthierachie genannt.
- Eine positive Aussage über sich aufschreiben (Affirmation) und diese täglich wiederholen.
- Expositionen, d.h. direkter, realer Kontakt mit den Stress und Angst auslösenden Situationen. Sie werden auch Expositionen in vivo genannt.
- Fantasieübungen, d.h. sich in der Fantasie Situationen ausmalen, die Befürchtungen auslösen, dass etwas Schreckliches, Unheilvolles geschehen könnte. Sie werden auch Expositionen in sensu genannt.
- Über Einüben die üblichen Kontrollmechanismen (prüfen, vermeiden, waschen…) und Rituale unterlassen und diesen Druck lernen auszuhalten – er wird sich dann verringern.
Die Grundregel dabei lautet: Eine Übung erst beenden, wenn der anfängliche Belastungsgrad auf mindestens die Hälfte abgesunken ist.
Meine Affirmationen
Auf diesem Foto
siehst du meine Karte (leicht abgegriffen, da seeeehr oft in der Hand gehalten), auf der ich meine positive Aussage (Affirmation) über mich geschrieben habe. Dort stand:
„Ich liebe und akzeptiere mich, auch wenn ich zurzeit diese Probleme habe. Meine Belastung wird sich langsam verringern und ich kann mich Tag für Tag mehr auf mich verlassen.“
Diese beiden Sätze habe ich immer laut zu mir selbst gesagt, bevor ich mit meinen Übungen (Exposition oder Fantasie) gestartet habe.
Nachdem es mir nach einigen Woche schon besser ging, haben wir noch diese 2. Affirmation von Louise Hay hinzugefügt:
„Ich akzeptiere mich so wie ich bin. Alles in mir, alles Schwache und alles Starke, ist Teil meines einen wunderbaren Selbst. Dieses eine führt mich, während ich lerne, mich zu ändern und zu wachsen.“
Zu der 2. Affirmation hat mir meine Therapeutin Akupressur empfohlen. Es waren Punkte auf der Stirn und beiden Nasenseiten. An die 100%ig genaue Lage der Punkte kann ich mich leider nicht mehr erinnern und deshalb schreibe ich sie hier nicht auf, um euch nichts Falsches zu erzählen.
Expositionen, d.h. realer Kontakt (für Zwangshandlungen)
Zuerst suchte ich mir ein Thema (Zwang) mit mittlerem Stressniveau aus (z.B. Türklinke, Toilettendeckel, etc.), dann folgte
Stufe 1: ich musste mit der Hand den Gegenstand so lange berühren, bis eine Verringerung des Belastungsgrades zu spüren war. Manchmal dauerte es Stunden oder Tage, bis die Entlastung deutlich spürbar war, aber sie trat ein. Wenn der Druck sehr stark war, hat mir eine Atemübung geholfen: über das eine Bein in der Vorstellung den Atem hochholen, durch den ganzen Körper wandern lassen und dann über das andere Bein den „kontaminierten“ Atem herauslassen.
Stufe 2: ich musste mich selbst kontaminieren, d.h. die gleiche Hand berührte jetzt (ohne gewaschen zu sein) den Kopf, die Haare, Arme, Beine, die Haut. Auch hier musste ich so lange fortfahren, bis der Druck nachgelassen hat. Falls es nicht gleich leichter wurde, musste ich immer wieder von vorne anfangen und mir Zeit lassen.
Stufe 3: auch wenn die Entlastung noch nicht sehr groß war, musste ich durch die Gegend wandern und die ganze Wohnung kontaminieren (Schränke, Bett, Laken usw.). Wenn die Ansteckungsgefahr außerhalb der Wohnung war, dann musste ich ein Taschentuch dort „infizieren“ und zu Hause damit alles kontaminieren.
Die ersten 4 Tage eines Themas verbrachte ich mit Stufe 1 und 2 und spätestens am 5. Tag musste ich Stufe 3 dazu nehmen, auch wenn der Anfangserfolg noch viel besser hätte sein können.
Fantasieübungen (für Zwangsgedanken)
Auf 4-5 DIN A4 Seiten musste ich mir eine Situation (Zwangsgedanken) aussuchen. Am Anfang immer erst Zwangsgedanken mit mittlerem oder noch geringerem Belastungsgrad, das nennt sich auch graduierte Konfrontation*. Diese Zwangsgedanken musste ich dann so lebhaft und detailgenau wie möglich beschreiben, aber nicht ritualisieren (nicht aufstehen, mich waschen oder etwas kontrollieren). Dann musste ich mich in die Situation hineindenken und mir diese (in der Gegenwart) mit geschlossenen Augen laut erzählen – NICHT DAS GESCHRIEBENE ABLESEN – und das ganze aufnehmen (ich sitze hier, jetzt kommt… ich spüre wie das Schreckliche jetzt um sich greift und passiert…). Danach musste ich mir einen Wecker stellen und 2-mal nacheinander für je 20 min das Aufgenommene anhören. Erst wenn der Stress über mehrere Tage niedrig blieb, durfte ich dieses Thema verlassen und zu einem nächsten Thema übergehen.
Fun Fact: ich habe damals dieses Diktiergerät
für meine Aufnahmen benutzt 🙂 Ist das nicht lustig? Heute würde ich zu meinem Smartphone greifen…
*Es gibt auch die massierte Konfrontation. Dabei stellen sich die Patient*innen nach der Vorbereitungsphase sofort ihren größten Ängsten, um schnellstmögliche Erfolge zu erzielen. Ein anderer Begriff dafür ist „Flooding“.
Meine Gedanken dazu
Wenn du mein Therapie-Programm hier liest, könnte der Gedanke aufkommen, das hört sich so einfach an. Aber es hat mich enorm viel Kraft gekostet. Die Übungen waren zu Beginn das einzige an einem Tag, das ich geschafft habe.
Vor allem die Überwindung mit der Übung anzufangen. Aber der Gedanke daran, dass es mir irgendwann mit Hilfe dieser Übungen besser gehen wird, hat mich motiviert, weiterzumachen. Als dann die ersten Expositionen erfolgreich waren und ich wusste, dass es mir hilft, hat mich auch dieses Wissen motiviert. Ich muss aber auch gestehen, dass ich nicht immer motiviert war. Es ist einfach so unglaublich anstrengend und hart, sich jeden Tag seinen schlimmsten Ängsten und Befürchtungen zu stellen. Von daher habe ich mir für solche Tage auch kleine Belohnungen für nach der Expo überlegt, wie z.B. Gummibärchen gönnen oder eine Serie weiterzuschauen.
Am schwierigsten waren für mich die Fantasieübungen. Die Expositionsübungen waren für mich besser zu (be)greifen, da es meistens haptische Aufgaben waren. Bei den Fantasieübungen konnte ich „nur“ meine Gedanken und Vorstellungskraft nutzen.
Mit meiner Therapeutin habe ich jeweils die erste Übung von einer Exposition und einer Fantasieübung zusammen in einer Therapiestunde durchgeführt. So musste ich nicht allein damit umgehen und sie konnte mir bei Fragen etc. helfen. Alle weiteren habe ich allein zu Hause umgesetzt. Außerdem hat sie mir vorgeschlagen, dass ich mir, bevor ich die Therapie beginne, eine Belohnung für mich ausdenken solle, wenn ich meine Zwänge erfolgreich überwunden habe. Und diese war schnell gefunden: ich war und bin schon immer ein Riesen-Fan von der Serie „Sex and the City“ gewesen. Da lag es nahe, dass ich natürlich auch gerne mal New York City sehen wollte. Und genau das war meine Belohnung: 1 Woche NYC mit meinem Schatz.
Ich bin so dankbar für all die Unterstützung meines Mannes und meinen Therapeut*innen! Und so stolz auf mich, dass ich es selbst geschafft habe, mich wieder ins Leben zurückzukämpfen. Worte können das nicht beschreiben.
Meine Belohnung nach der Therapie: NYC
Wie bereits erwähnt, hatte ich nach erfolgreichem Überwinden meiner ca. 100 Zwänge, mir eine Belohnung verdient. Und die war für mich auch gleichzeitig ein sehr großer Test, da ich ein wenig Angst hatte, ob ich es auch wirklich schaffe. Denn mein Mann und ich sind für 1 Woche nach New York City geflogen!!!!! Das war schon immer mein Traum gewesen. Auch deshalb, weil ich die Serie „Sex and the City“, die ja bekanntlich in NYC spielt, liebte. Einmal dort entlanglaufen, wo auch Carrie durch die Straßen spazierte und shoppte 😊
Also planten wir unseren Trip und landeten im März 2010 auf dem JKF-Flughafen. Ich war vorher so aufgeregt, ob mir meine Zwänge nicht doch einen Strich durch die Rechnung machen. Doch es klappte alles erstaunlich gut. Selbst auf die Toiletten gehen in Kaufhäusern, Malls etc. habe ich geschafft. Wir haben die Freiheitsstatue gesehen,
das Empire State Building,
das Moma, das American Museum of Natural History, die Brooklyn Bridge
und noch so viel mehr. Es war einfach alles überwältigend für mich und nach wie vor mein allerschönster Urlaub, den ich jemals hatte. Und ich war schon an vielen anderen schönen Orten.
Gleich am ersten Tag schlenderten wir über den Times Square, als wir angesprochen wurden, ob wir Lust hätten, Mary J. Blige live performen zu sehen. Ich dachte, ich hätte mich verhört und fragte nochmal, ob sie wirklich gerade gesagt hat, dass Mary J. Blige in 10 min hier kostenlos auftreten wird. Sie nickte und lachte. So viel Glück – das konnte ich kaum glauben. Ich liebe ihre Musik. 10 min später waren wir schon mitten im Konzert und ich unsagbar glücklich, dankbar und mit Freudentränen in den Augen für dieses Erlebnis.
Als am letzten Tag bei allerschönstem Sonnenschein (ich behaupte heute noch, dass das Licht in NYC heller war) saßen wir im Taxi auf dem Weg zum Flughafen und der Taxifahrer fragte, wie es uns gefallen hat. In diesem Moment wurde ich so von meinen Gefühlen überwältigt, dass mir einfach die Tränen nur so liefen. Ich war so traurig, New York wieder zu verlassen und gleichzeitig so stolz, dass ich es geschafft hatte und wir so eine wundervolle Zeit dort hatten. Die Tränen liefen und liefen und ließen sich auch nicht stoppen. Wie ein Befreiungsschlag…
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