Meine Zwänge

… oder das Gefühl bei vollem Verstand verrückt zu werden

Ist der Herd auch wirklich aus. Ich schaue auf Knopf 1, klatsche auf meinen Oberschenkel und sage „1 aus“, schaue auf Knopf 2 klatsche auf meinen Oberschenkel und sage „2 aus“. Weiter geht es mit Knopf 3 und 4. Danach muss ich auf die Leuchtanzeige schauen, ob das Licht auf der Herdplatte aus ist. Im Dunkeln ist das relativ einfach: Lichtschalter aus und schon leuchtet das rote Lämpchen offensichtlich. Scheint die Sonne wird das Erkennen des Lichts schon schwieriger bzw. ist es manchmal gar nicht möglich zu erkennen. Unsicherheit steigt auf, Gedanken beginnen in meinem Kopf zu kreisen, was wenn ich jetzt die Wohnung verlasse und es anfängt zu brennen, wenn ich nicht mehr hier bin. Wenn es keiner schnell genug bemerkt, das Feuer sich ausbreitet und die kleinen Kinder im ersten Stock des Wohnhauses oder der Senior im Erdgeschoss durch das Feuer ums Leben kommen. Diese Schuld kann ich nicht auf mich nehmen. Alle unsere liebgewordenen Dinge und wichtige Unterlagen für immer zerstört wären. Das muss ich verhindern. Ich schaue auf Knopf 1, klatsche auf meinen Oberschenkel und sage „1 aus“….

Das ist wohl der Klassiker unter den Zwangsstörungen: ein Zwangsgedanke „der Herd könnte Feuer fangen“ wird mit einer Zwangshandlung „dem Kontrollieren, ob der Herd auch wirklich aus ist“ versucht zu lösen. Doch gebe ich der Handlung nach, fühlt sich der Gedanke bestärkt und kommt immer häufiger und stärker zurück.

2008 war bei mir der Höhepunkt der Zwangsstörungen erreicht. Ca. 100 unterschiedliche Zwänge haben mein Leben so eingeengt, dass nichts mehr ging. Tagelang saß ich einfach nur auf der Couch, selbst essen machen, war nicht mehr möglich. Das Essen könnte laut meinen Zwangsgedanken kontaminiert sein, weil es jemand anderes vorher angefasst hat und somit Bakterien oder seine Viren darauf verteilt haben könnte. Also aß ich Toast mit Nutella. Das ging in meiner damaligen Welt am einfachsten. Die Wohnung verlassen war schon gar nicht mehr möglich, so viele Viren, die draußen in der großen Stadt auf mich lauerten. Meine Hände waren schon rissig vom vielen Händewaschen. Ich hatte eine richtig große Mischung aus Zwangsgedanken und Zwangshandlungen angesammelt, die mich in meinem Leben so einschränkten, dass ich nichts mehr mit Freund*innen unternahm. Niemand sollte mitbekommen, dass mit mir was nicht stimmt. Ich fühlte mich, als würde ich bei vollem Verstand verrückt werden. Wenn man Zwangsstörungen hat, weiß man, dass diese nicht real sind, kann sie aber trotzdem nicht abstellen und schämt sich dafür. Ich wurde immer einsamer, zog mich immer mehr zurück, bis ich dann auch nicht mehr arbeiten konnte. Zum Glück stand mein Mann, damaliger Freund, an meiner Seite und hat mich unterstützt. Nun brauchte ich professionelle Hilfe.

Die Lösung war eine Verhaltenstherapie in Kombination mit Tabletten (Anti-Depressiva). Die Tabletten halfen mir, um erst mal wieder auf ein Niveau zu kommen, dass ich nicht ständig von meinen Zwängen gefesselt war. Dass ich wieder ins Auto steigen konnte und zu meiner Therapeutin fahren konnte, um die Verhaltenstherapie zu beginnen. Denn selbst das Autofahren, war mit einem Zwangsgedanken verbunden: was, wenn ich jemanden überfahren habe, weil ich kurz nicht 100%ig aufmerksam war. Dann musste ich zu der Stelle zurückfahren, um zu kontrollieren, dass nichts passiert war.

Von meiner Therapie und dem Weg zurück ins Leben berichte ich euch in einem meiner nächsten Posts. 

Update Mai 2021

Seit ca. 1,5 Monaten sind ein paar Zwänge wieder zurück. Ich nehme euch gerne auf meiner Reise mit, wie ich sie erneut mit viel positiver Energie überwinden werde.

Update November 2021

Es geht mir schon viiiiel besser! Durch den Rückfall arbeite ich gerade an den Faktoren, die dazu geführt haben und ich zeige jetzt sogar mein Gesicht. Ich möchte meine Zwangsstörung nicht mehr verheimlichen. Im Gegenteil: ich mache jetzt darauf aufmerksam mit meinem Gesicht, in der Hoffnung noch authentischer rüber zukommen. Gemeinsam schaffen wir es, Zwangsstörungen zu entstigmatisieren!

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